Linz – „Die Boomer“, über die reden? – geht nicht. Manuela Lowak, Jahrgang 1959, räumt mit wunderbaren Stories mit der Meme auf, die heute 61- bis 79-Jährigen seien „Die Boomer“ – eine homogene Gruppe, (die nebenbei verantwortlich sei für viele der heutigen Krisen, nehmen wir als Beispiel den Klimawandel). Nur weil sie Viele waren? Der rasante Geburtenanstieg nach 1945 (bis zu 2,5 Kinder pro Frau im Unterschied zu heute durchschnittlich 1,35 Kindern) konstruiert noch keine Homogenität in den Charakteren dieser Generation. Beispiel gefällig? Schauen wir auf einige Persönlichkeiten dieser Generation in Deutschland: Jürgen Becker (Kabarettist), Ralf Moeller (Bodybuilder und Schauspieler), Angela Merkel (Politikerin), R. David Precht (Philosoph), Harald Schmidt (Late-Night-Moderator), Harpe Kerkeling (Entertainer), Frauke Ludowig (TV-Moderatorin), Susanne Klatten (BMW-Erbin), Guido Westerwelle (Politiker). Sehen Sie typische Gemeinsamkeiten? Ich nicht, außer den beieinander liegenden Geburtstagen.
Lowak schreibt jedoch nicht über die Prominenten ihrer Generation. Vielmehr sind es die Menschen von nebenan, die im Mittelpunkt ihrer Erzählungen stehen. Sie schreibt erstaunlich liebevoll über diese Alterskohorte, der sie selbst auch angehört, durchaus mit (selbst-) kritischem Unterton, aber differenziert, würdevoll, humorig, ernsthaft und in jeder Hinsicht zugetan. Obwohl ihr die Boomer-Frauen – die Mütter, die Großmütter, die Freundinnen – ein besonderes Anliegen sind, erzählt sie gerne auch aus männlicher Sicht. So in der Titelgeschichte, in der sich ein Ehemann und Familienvater, Anfang 60, nach privaten und beruflichen Tiefschlägen auf einen spontanen Roadtrip in den Süden begibt. Die weibliche Sicht auf die Welt überwiegt jedoch in dem Buch. In den 70er- und 80er-Jahren war das mit Sicherheit nicht so. Es war halt doch irgendwie eine kleinere Welt …
So wie in der Geschichte „Flausen im Kopf“: das Leben in einer Kolonie (so hießen die Wohnsiedlungen der „Prekären“ in den 50er- und 60er-Jahren, ja, sie gab es) mit dem Obstgarten, den Freundinnen um die Ecke, dem Tante-Emma-Laden mit der Milchkanne, dem täglichen Spiel im Freien, dem Milchreis mit Zimt und Zucker, beengten Wohnverhältnissen mit Waschzuber in der Waschküche als Badewanne, Bratäpfeln und Briketts. Flugreisen mit Billigticket? – Eine Illusion.
Die Autorin urteilt und verurteilt nicht. Sie beobachtet, scharfsinnig und genau. Dabei blendet sie die Krisen und Schattenseiten dieser Epoche, familiäre wie politische, nicht aus (das verhinderte Aufstiegsversprechen, die autoritären, restriktiven Stile in Politik, Bildung und Gesellschaft). Ihr Buch kann daher durchaus auch als eine Art Zeitreise bezeichnet werden. Neben den Erinnerungen an die 60er- und 70er-Jahre ist ihr auch das Bonner Studentenleben Anfang der 80er-Jahre eine Geschichte wert. Das abenteuerliche Leben einer Friseurin in den 90ern wird aus der Sicht ihrer jüngeren, rivalisierenden Schwester erzählt. In Lowaks Geschichte „Anita, oder: Von nix kommt nix“ ist der Konflikt zwischen den Geschwistern zugleich ein Generationenkonflikt, bei dem es weder Opfer noch Schuldige gibt.
Mit ihrer verblüffenden Mixtur aus Prosa, Fantasy, Märchen und Träumen vermittelt Lowak den LeserInnen ein differenziertes, sehr menschliches Gefühl für die damals Geborenen – und damit auch über ein wesentliches Stück deutsch-deutscher Geschichte. Ein wenig erinnert Lowaks Erzählstil an Christoph Peters „Dorfroman“.
Die insgesamt dreizehn Geschichten in Lowaks aktuellem Buch sind eine wunderbare, vergnügliche, wohl auch zum Sinnieren anregende Kost, jedoch ohne Kitsch und Verklärung.
Heino Gröf