Rheinbreitbach – Am 27. Januar 2025 wird sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen zum 80. Male jähren. Zahlreiche Filme, Reden und Gedenkveranstaltungen erinnern hierbei zu Recht an das Leid der Opfer, die sadistischen Gräueltaten sowie den maschinellen Massenmord, welche nicht nur in Auschwitz, sondern insgesamt in allen Konzentrationslagern des nationalsozialistischen Regimes stattgefunden haben. Die Erinnerung an diese unmenschlichen Gewaltverbrechen ist hierbei eine stete Mahnung, zu welcher Grausamkeit der Mensch fähig ist und wozu Hass und Hetze sowie Ausgrenzung letztlich führen.
Gleichzeitig gilt es mit diesem besonderen Jahrestag auch einen Blick auf die Erinnerungskultur innerhalb Deutschlands zu werfen, die durch aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen stark unter Druck gerät und an Akzeptanz verliert.
Aussagen wie „Das ist nicht unsere Geschichte“ oder „Irgendwann muss es mal gut sein“ in Bezug auf die Erinnerungskultur des Holocaust werden in der Gesellschaft immer salonfähiger. Dies spiegelt sich auch in der Polarisierung der politischen Ansichten an den linken und rechten Rändern sowie einem wachsenden religiösen Fanatismus wider.
Die Ursache für diese Aussagen liegt jedoch nicht, wie zu vermuten, in einer wachsenden Ablehnung des Holocaust und der damit verbundenen Gräueltaten, sondern vielmehr in einer überholten Erinnerungspolitik.
Nach dem 2. Weltkrieg begannen die Besatzungsmächte auf unterschiedliche Weise, die Gräueltaten des Nationalsozialismus in den Nürnberger Prozessen sowie in zahlreichen Entnazifizierungsverfahren aufzuarbeiten. Die US-Amerikaner glaubten an eine individuelle Schuld jedes einzelnen Deutschen, die es zu bewerten und zu bestrafen galt. In der Realität musste man sich jedoch eingestehen, dass man nicht ein ganzes Land bestrafen und zur Verantwortung ziehen konnte. Zudem brauchte man für den Wiederaufbau des Landes die Fachkompetenz von zahlreichen ehemaligen nationalsozialistischen Verwaltungsträgern, sodass diese größtenteils unbestraft führende Positionen wieder in der Bundesrepublik einnahmen.
Die Sowjetunion folgte vor dieser Problematik direkt dem Schluss, dass die Bevölkerung keine oder eine geringe Schuld habe und durch die führenden Nationalsozialisten rund um Hitler verführt worden sei. Somit galt es vor allem, die führenden Köpfe des Nationalsozialismus zu bestrafen, was in den Nürnberger Prozessen im Wesentlichen auch geschah. Aber auch bei diesem Ansatz kamen zahlreiche NS-Täter ohne größere Strafe davon und machten Karriere in der späteren DDR. Eine individuelle Verantwortung wie beim US-amerikanischen Ansatz gab es hier nicht.
Beide Ansätze haben nach dem 2. Weltkrieg ihre Legitimation gehabt. Die Realität, wer tatsächlich Schuld am NS-Regime trägt und wie hätte bestraft werden müssen, liegt wohl zwischen diesen beiden Ansätzen und wird immer wieder aufs Neue diskutiert werden müssen.
Unbestreitbar ist jedoch die Tatsache, dass durch die Wiedereinsetzung oder Weiterverwendung von ehemaligen NS-Funktionsträgern in der DDR sowie in der BRD ein allgemeiner Mantel des Schweigens über die eigenen Taten im Zweiten Weltkrieg gelegt wurde. Gesellschaftlich bedeutete dies, dass niemand mehr darüber redete, wo er in der Zeit des Nationalsozialismus gewesen ist und vor allem, was er getan hat.
Erst mit den Studentenbewegungen von 1968 sowie den ersten Forschungsberichten und Aufarbeitungen über die NS-Gräueltaten forderte die junge Generation sehr massiv von den eigenen Eltern dieses Wissen ein. Die unbeteiligte junge Generation der 68er-Bewegung stellte die Tätergeneration zur Rede. Eine Vielzahl an Forschungsberichten zum Holocaust und zur NS-Zeit klärte die Öffentlichkeit auf. Ehemalige NS-Täter in führenden politischen Ämtern und Funktionen wurden enttarnt. Selbst in der eigenen Familie wurde nun klar, wer sich am Holocaust beteiligt hatte. Familien brachen über diesen Sachverhalt auseinander.
Aus dieser Situation heraus entwickelte sich generationenübergreifend zu Recht eine große Beschämtheit und tiefe Betroffenheit gegenüber dem eigenen Land und der eigenen nationalen Kultur. Deutschland war zu diesem Zeitpunkt das Land der Täter. Denn in Deutschland lebte zu dieser Zeit immer noch die Generation der Täter, die im Gegensatz zu ihren Opfern in den Wirtschaftswunderjahren ein Leben in Frieden und Wohlstand führen konnten.
Dieses Gefühl aus einer Mischung von Scham, Betroffenheit, Ohnmacht, Reue und verzweifelter Wiedergutmachung mündete letztlich in dem fulminanten Augenblick, als Willy Brandt als deutscher Kanzler 1970 vor dem Denkmal für den Warschauer Aufstand in Polen ungeplant niederkniete. Ein symbolischer Akt, in welchem Deutschland sich deutlich sichtbar zu der Verantwortung für diese Gräueltaten bekannte und ein deutliches Zeichen dafür setzte, dass diese Verbrechen nun unauslöschbar mit der deutschen Geschichte verbunden sein würden. Gleichzeitig entwickelte sich aber hieraus auch eine neue Erinnerungskultur. Aus der Kultur des Verschweigens wurde eine Kultur der Scham und der Reue, die gegenüber der lebenden deutschen Tätergeneration mehr als nur angebracht war und bis heute andauert. Die Schuld am Holocaust wurde fest mit der deutschen Kultur verknüpft. Einfach gesagt: Wer Deutsch spricht, muss Täter des Holocaust sein.
Doch seit dieser Zeit hat sich einiges geändert. Die Tätergeneration ist zum Großteil verstorben, zahlreiche Einwanderer sind in unser Land gezogen, die Wiedervereinigung hat stattgefunden und mehrere junge Generationen sind nachgewachsen, die teilweise die Tätergeneration gar nicht mehr kennengelernt haben. Ein einheitliches Nationalbewusstsein, so wie es in den 1970er Jahren noch vorhanden war, existiert so nicht mehr. Verschiedene kulturelle und nationale Wurzeln innerhalb einer Familie stellen keine Seltenheit mehr dar, sondern eher die Regel.
Wer diese Generation nun mit einer Kultur der Scham aus den 1970er Jahren konfrontiert, die u.a. auf einem veralteten deutschen Nationalgefühl beruht, der erntet zu Recht von der jüngeren Generation das Gegenargument: Was habe ich damit zu tun?
Selbst bei einer Familie, die alle „deutschstämmige“ Vorfahren haben, muss sich die heutige Gesellschaft die berechtigte Frage stellen, wieso die junge Generation für die Taten der (Ur-)Großeltern verantwortlich gemacht werden soll. Hat die heutige Generation eine Schuld an diesen Gräueltaten, nur weil sie in Deutschland geboren und aufgewachsen ist? Kann man einen Urenkel beispielsweise eines NS-Verbechers für die Taten seiner Vorfahren verantwortlich machen, ähnlich, wie die NS-Täter es mit der Sippenhaft bei ihren Gegnern machten?
Genau hier liegt die Problematik, warum sich immer mehr Menschen mit der Erinnerungskultur rund um den Holocaust auf eine gewisse Weise schwertun und somit ein Nährboden für Antisemitismus und überholte nationalistische Ansichten entsteht. Die aktuelle Erinnerungskultur der Scham bietet keine Antworten auf die oben gestellten Fragen. Im Gegenteil: Sie schafft ein Gefühl von Ungerechtigkeit, weil Menschen für etwas verantwortlich gemacht werden, was sie nicht getan haben. Aussagen wie „Wir müssen wieder stolz auf Deutschland sein“ oder „Irgendwann muss es mal gut sein“ resultieren genau aus diesem Gefühl heraus und bieten eine rückwärtsgewandte Antwort, die den Opfern des Holocaust keinesfalls gerecht werden. Es ist der erste Schritt zur Bagatellisierung dieser furchtbaren Verbrechen und der erste Schritt zum Vergessen.
Doch wie könnte eine aktuelle Erinnerungskultur aussehen, die alle Menschen unabhängig von einer „deutschen Nationalität und Kultur“ berührt?
Die Antwort darauf ist meines Erachtens relativ einfach. Gräueltaten und Massenmord resultieren nicht allein daraus, dass man einem bestimmten Land oder einer bestimmten Kultur angehört. Das belegen zahlreiche Beispiele wie die internationalen Kolonialverbrechen in Afrika, Indien, Südamerika oder China. Auch gibt es fast in jedem Land rechtsgerichtete und rassistische Kräfte, die den Werten des Nationalsozialismus nacheifern und kein deutsches Phänomen sind.
Es kommt letztlich darauf an, welche Werte wir in uns tragen und die wir mit Selbstbewusstsein, Überzeugung und Konsequenz (nicht mit Stolz) leben und vertreten. Eine neue Erinnerungskultur in Bezug auf den Holocaust sollte daher nicht darauf ausgerichtet sein, die Menschen in Deutschland und die deutsche Kultur weiter nur als Täter zu betrachten, die sich zu schämen und zu entschuldigen hat. Es kommt vielmehr darauf an, die Erinnerung an den Holocaust als universelle Mahnung an jeden einzelnen Menschen in der Weltgemeinschaft (unabhängig seiner Nationalität und Kultur) zu verstehen. Die Erinnerung an den Holocaust mahnt uns, konsequent und selbstbewusst für Menschlichkeit einzustehen und niemals zu vergessen, wozu der Mensch fähig ist, wenn er dem Hass freien Lauf lässt. Hier liegt auch die besondere Verantwortung der heutigen Generationen, die bei hier aufwächst und lebt: Die Werte des Humanismus aktiv in der Gesellschaft zu leben, die vor 80 Jahren so bitter in Vergessenheit gerieten. Scham und Reue verhindern hierbei eine konsequente und selbstbewusste Haltung, für diese Werte einzustehen.
Diese Erinnerungskultur des gelebten und verantwortungsbewussten Humanismus ist die größte Ehrung und Würdigung der Opfer des Holocaust, die somit niemals in Vergessenheit geraten werden.